Glance

 Glance (flüchtiger Blick) ist der Titel einer künstlerischen Installation in einem etwa 100 Meter langen Fußgängertunnel des Bahnhofs Flöha der 1975 in Essen geborenen und heute in Berlin lebenden Künstlerin Tanja Rochelmeyer. Die perfekten Oberflächen der aus 171 hochrechteckigen Tafeln zusammengesetzten Installation zeigen Elemente wie Rahmen, stilisiertes Mauerwerk, Rechtecke, Buchstaben, die den Stadtnamen FLÖHA ergeben, und wiederholen ein auf wenige Farben konzentriertes Spektrum.

Rochelmeyers Bilder sind weder Abbilder noch transportieren sie Botschaften. Sie erinnern an flüchtige Blicke auf Landschaft, Architektur, Plakate oder Menschen, die sich schemenhaft im retinalen Köcher des Auges verfangen haben. Im Zusammenspiel der Farben und Formen mit der Architektur, der Bewegung und den Beweggründen der im Tunnel Vorbeieilenden modulieren diese Bilder je nach Perspektive Richtung, Geschwindigkeit, Lichtverhältnis oder auch Stimmung und begleiten als mentale Nachbilder den Tag.

Glance erinnert am Ort seiner Installation auch an Ströme vorbeieilender Arbeiterinnen und Arbeiter der nahe gelegenen Baumwollspinnerei, die zwischen 1809 bis 1994 in Flöha Stoffe entwickelten und produzierten. Ihre Schritte und Gedanken sind in den Bahnhof Flöha eingeschrieben wie in einem Wunderblock.

Der drei Zugtrassen verbindende Bahnhof wird als Knotenpunkt der Kommunen und Stationen des Kunst- und Macherweges „Purple Path“ in der Region um die Kulturhauptstadt Chemnitz wieder neue Informationen an diesen Ort einbringen. In seiner konkret-abstrakten Bildsprache verknüpft Glance damit auch Geschichte, Landschaft, Gegenwart und Zukunft zwischen Annaberg-Buchholz und Zwickau.

Flöha liegt wenige Kilometer östlich von Chemnitz, am Zusammenfluss der erzgebirgischen Flüsse Zschopau und Flöha. Wer mit dem Zug am Bahnhof ankommt, befindet sich geografisch sogleich mitten im Zentrum. Flöha ist eine Stadt im Umbruch. Der Bahnhof wird derzeit zum Kunstbahnhof umgebaut, der Vorplatz neugestaltet. All das wird auch Teil eines neuen Stadtzentrums sein. Hier machen die Flöhaer:innen aus dem Umbruch einen Aufbruch. 

Vom Bahnhof aus fällt sofort das große Areal der Baumwollspinnerei ins Auge. Die Textilindustrie war im 19. und 20. Jh. eine Schlüsselindustrie in Sachsen. Die alte Baumwollspinnerei in Flöha gehört zu den beeindruckendsten Industriebauten jenes Zeitalters. Der monumentale Fabrikkomplex prägte das Stadtbild fast 200 Jahre. 1809 wurde hier das erste Spinnereigebäude errichtet, bis 1904 kamen weitere große Fabrikgebäude in markantem Backsteinstil dazu. Damals hieß der Ort noch Plaue, erst seit 1962 trägt er den Namen Flöha. 

Über die DDR-Zeit war der VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien der größte Arbeitgeber in der Stadt. Wenige Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1994 schloss die Spinnerei ihre Pforten. Ebenso erging es anderen Textilbetrieben und auch der großen Papierfabrik. Jahrzehnte wirtschaftlicher Neuorientierung folgten. Was sollte mit den Industriebrachen geschehen? Als Denkmal sächsischer Industriekultur könnte man die Baumwollspinnerei nicht einfach abreißen. Zu groß wäre das Loch im Stadtbild geworden, zu groß auch das Loch in der Erinnerung so vieler Menschen, die hier einst arbeiteten. 

In einem städtebaulichen Masterplan wurde die Zukunftsidee entwickelt: Hier soll das neue Stadtzentrum entstehen. Mehr lesen…

Das Wasser der Flüsse Flöha und Zschopau war einst das prägende Element wirtschaftlicher Dynamik in den Dörfern Flöha, Gückelsberg, Plaue und Bernsdorf, die heute die Stadt Flöha bilden. Landwirtschaft und Mühlen waren ab dem 12.Jh. die ersten Gewerbe. Im 18.Jh. fand man ein kleines Steinkohlevorkommen, das bis etwa 1880 ausgebeutet wurde. Erst mit Textil- und Papierproduktion, die ebenfalls viel Wasser benötigen, erlebten die Ortschaften einen wirtschaftlichen Boom. 

Vom Rittergutsbesitzer zum Industriepionier: Christian Gottlieb Seeber 

Am Standort einer ehemaligen Schneidmühle auf der Kohlwiese errichtete der Chemnitzer Kattundrucker Benjamin Gottlieb Pflugbeil im Jahre 1789 eine Bleicherei und Färberei. 

Die vorbeifließende Zschopau speiste das Gewerbe reichlich mit dem benötigten Wasser. 1798 übernahm Kommerzienrat Christian Gottlieb Seeber das Unternehmen. Der besaß eigentlich ein Rittergut und betrieb darauf Landwirtschaft. Mit der Betriebsübernahme wurde er zu einem der Pioniere der sächsischen Industrialisierung. 1809 legt er mit der Errichtung der Spinnmühle den Grundstein für die Fabrik, die als Baumwollspinnerei die Wirtschaft und das Stadtbild Flöhas bis heute prägen sollte. 160 Menschen finden in Seebers Fabrik eine Arbeit. Mehr lesen…

Blütezeit der Textilindustrie im frühen 20.Jh.: Brüder Otto und Ernst Clauß 

Am 1. Juni 1815 übernehmen Otto und Ernst Iselin Clauß die Baumwollspinnerei nebst Bleicherei. Beide waren Schwäger von Spinnereigründer Christian Gottlieb Seeber. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das Unternehmen zu einer der größten Spinnereien Sachsens. 1900 bis 1904 erfolgt nochmals eine grundlegende Produktionserweiterung und weitere Maschinisierung. Damit wird die Flöhaer Baumwolle zu einem der modernsten Spinnereien in Deutschland. 

Mit dem Tod von Nachfolger Ernst Stephan Clauß im Jahre 1925 endet die eine beeindruckende Phase unternehmerischen Erfolges. Mehrere Wirtschaftskrisen setzen der Fabrik stark zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelingt ein Neustart der Baumwollspinnerei. Sie wird in der DDR als VEB – Volkseigener Betrieb weitergeführt.In Spitzenzeiten arbeiten hier bis zu 1200 Menschen. Mehr lesen…

Der Papierfabrikant: Robert Wilisch (1846-1931) 

Robert Wilisch wurde in der Bergstadt Schneeberg im Erzgebirge geboren. Sein Verwandter Heinrich Wilisch hatte dort 1805 eine der ersten Buntpapiermanufakturen im deutschsprachigen Raum gegründet. Eine weitere Fabrikation gab es in Oberschlema, von der heute einzig die denkmalgeschützte, aber noch unsanierte Wilisch-Villa (1896) in Bad Schlema  zeugt. Das Werk wurde 1946 von der Sowjetischen Militäradministration als Kriegsreparation demontiert und wich dem Uranbergbau. Nach dem Schulbesuch in Schneeberg absolvierte er in Chemnitz eine kaufmännische Ausbildung. Danach ließ er sich im Ortsteil Plaue nieder. 

Hier kaufte er eine ehemalige Spinnerei und gründete darin im Jahre 1878 eine Papierfabrik. Diese entwickelte und produzierte hochwertiges Chromo-, Glace- und Buntpapiere sowie Kartons. Deren Qualität machte Robert Wilischs Fabrik überregional bekannt. Der Standort war ideal, denn der Fluss Zschopau lieferte das reichlich benötigte Brauchwasser. Das Geschäft prosperierte über viele Jahrzehnte. 

Um die Jahrhundertwende wurde die Fabrik erheblich erweitert, da das Geschäft stark wuchs. Diese Fabrik war nach dem Ersten Weltkrieg eine der bedeutendsten und leistungsfähigsten Unternehmen in Sachsen. Die Produkte waren vor allem bei Druckereien gefragt, sodass in den 1920er und 1930er Jahren weitere Ausbauten folgten. 1931 starb Robert Wilisch. 

Nach dem 2. Weltkrieg ging das Unternehmen in den Staatsbesitz über und produzierte im selben Produktsegment als VEB Buntpapierfabrik Plaue weiter. Mit einer gescheiterten Privatisierung als „Flöha Papier GmbH“ nach der Wende 1989/90 endete nach 115 Jahren die Papierproduktion. Seit 2021 gehört der inzwischen leerstehende Komplex der Stadt Flöha. 2021 und 2022 fanden in dieser Industriebrache ibug-Festivals statt. Mehr lesen… 

Eine typische Mentalität im Erzgebirge 

Innovationen und Traditionsbewusstsein, Offenheit und Zuwanderung sicherten seit jeher das Überleben in der Region Erzgebirge. All das zeugt von den vielen Prozessen der Transformation, die weit in die Geschichte zurückreichen und teils bis heute andauern. Die Region war immer in Bewegung. Menschen kamen und gingen mit dem wirtschaftlichen Auf und Ab, erfanden sich kulturell neu und entwickelten Handwerk und Technik weiter. So ist es bis heute. In der Industriestadt Flöha verwandelt sich eine große Textilfabrik in ein neues Stadtzentrum. 

Von der „Alten Baumwolle“ zum neuen Stadtzentrum 

Historisch hatte sich in Flöha nie ein richtiges Zentrum gebildet, da die Stadt ursprünglich aus den vier Dörfern Flöha, Gückelsberg, Plaue und Bernsdorf qua Verwaltungsakt zusammengeschlossen wurde. Aber mitten im Ort lag die große Industriebrache der Baumwollspinnerei – eine Chance, neue städtebauliche Ideen zu verwirklichen. Schritt für Schritt entstand ein Masterplan, der zwei Jahrzehnte umspannte. 

Die Bürgerschaft erarbeitete 2005 in einer Ideenwerkstatt gemeinsam mit Architekten und Denkmalschützern, Landschafts- und Städteplanern sowie der Verwaltung neue Konzepte. Aus der „Alten Baumwolle“ wird in mehreren Bauphasen das neue Wirtschafts-, Verwaltungs- und Kulturzentrum. Geschäfte, Kindertagesstätten, Stadtsaal, Bibliothek und Vereinshaus sind bereits fertiggestellt. Als nächstes wird die Stadtverwaltung hierher umziehen, parallel entsteht der neue Marktplatz. Mehr lesen…

Der Kunst- und Skulpturenweg PURPLE PATH

Die Landschaften um Chemnitz – das Erzgebirge, Mittelsachsen, das Zwickauer Land – sind tief geprägt von der 850-jährigen Geschichte des Bergbaus. Der Abbau von Silber, Zinn, Kobalt, Kaolin und Wismut hat das Leben bestimmt; alle Wege, Straßen, Siedlungen haben irgendwie damit zu tun. Es ist eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, die im 21. Jahrhundert neu entdeckt werden will.

»C the Unseen« lautet das Leitmotiv der Kulturhauptstadt Europas 2025. Chemnitz und die Region werden Besucher:innen aus der ganzen Welt empfangen. Ein zentrales künstlerisches Angebot ist der Kunst- und Skulpturenweg des PURPLE PATH mit Arbeiten von internationalen und sächsischen Künstler:innen.

Kuratiert von Alexander Ochs orientiert sich der PURPLE PATH am Narrativ „Alles kommt vom Berg her“ und verbindet 38 Kommunen im Erzgebirge, in Mittelsachsen und dem Zwickauer Land mit der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Uli Aigners Monumentale Porzellane ist das sechste Kunstwerk am kontinuierlich wachsenden PURPLE PATH. Bereits installierte Werke stammen von Nevin Aladağ in Zwönitz, Tony Cragg in Aue-Bad Schlema, Friedrich Kunath in Thalheim, Tanja Rochelmeyer in Flöha und Carl Emanuel Wolff in Ehrenfriedersdorf.

Glance, Tanja Rochelmeyer, 2022; Courtesy: Tanja Rochelmeyer und DB Station & Service AG

Fotos: Ernesto Uhlmann

Texte: Ulrike Pennewitz / Alexander Ochs

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