Wildschweine

Fantastisch ist das skulpturale Werk des 1957 in Essen geborenen und an der Hochschule für Bildende Künste Dresden lehrenden Bildhauers Carl Emanuel Wolff. Mit seinen Tier- und Fabelwesen, seinen Märchenfiguren und personifizierten Alltagsgegenständen bevölkert der Künstler für gewöhnlich den weißen Ausstellungsraum und fordert die Fantasie der Betrachterinnen und Betrachter heraus, „sich auf das Werk als Kunst einzulassen und es in und durch Betrachtung zu vervollständigen“ wie die Kunsthistorikerin Karin Stempel schrieb.

In Ehrenfriedersdorf interveniert Wolff mit drei Bronzeskulpturen unter freiem Himmel hinter dem Besucherbergwerk und dem Mineralogischen Museum, die als Wildschweine in Lebensgröße gelesen werden können.

Sie stehen, sitzen, liegen ohne Sockel auf dem Boden. Deutlich sind die Arbeitsspuren an den Bronzekörpern zu erkennen, die der Künstler mit bloßen Händen und einfachen Werkzeugen dynamisch aus dem feuchten Modellmaterial herausgearbeitet hat, als wären sie direkt vor Ort und aus dem Ort geschaffen. Die patinierte Rotgussbronze der Skulpturen, die beim Gießen aus der Modellform entstanden sind, enthält neben Eisen auch Zinn, dessen Erz bis 1990 in Ehrenfriedersdorf abgebaut wurde. Der Legende nach entdeckten dort vor rund 800 Jahren Wildschweine das Mineral, in deren Fell nach einem Schlammbad Zinnstein schimmerte und die Bewohner von Ehrenfriedersdorf ermunterte, am heutigen Sauberg nach Erz zu suchen.  

Montanregion Erzgebirge: Zeitweise der größte Zinnproduzent der Welt
Erste Abbaugebiete des Zinns ab dem 13. Jahrhundert waren im Westerzgebirge bei Ehrenfriedersdorf, heute Besucherbergwerk Zinngrube und Eibenstock, das sich auf dem Bergbau- und Seifenlehrpfad erkunden lässt. Mit der Entdeckung neuer Vorkommen in den Hochlagen im 16. Jh. überstieg der böhmisch-sächsische Abbau sogar die britische Förderung. Das Erzgebirge wurde zeitweise zum größten Zinnproduzenten der Welt.  

Weitere beredte Zeitzeugen im Osterzgebirge sind das Bergbaumuseum Altenberg und das Besucherbergwerk „Vereinigt Zwitterfeld“ zu Zinnwald und der damalige Verwaltungssitz Schloss Lauenstein. Gäste erwandern die Zinnlandschaft am besten auf den lokalen Lehrpfaden. 

Erzbergbaulandschaften: Silber, Zinn, Kobalt, Uran, Eisen
Silber, Zinn, Kobalt, Uran und Eisen repräsentieren die fünf Erzbergbaulandschaften, welche das UNESCO Welterbe Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří charakterisieren. Jede ermöglicht Gästen einen Einblick in Abbau und Verarbeitung in einzelnen Epochen und veranschaulicht die Bedeutung aus globaler Sicht.

 

Im erzgebirgischen Bergbau wurden viele neue Technologien für den Abbau, die Aufbereitung und die Verhüttung von Erzen entwickelt und perfektioniert. Für das 16. Jh. gilt das Erzgebirge als das wichtigste montane Technologiezentrum der Welt. Von hier gingen die neuen Erfindungen ihren Weg in viele europäische und weltweite Bergbaureviere. 

Von der Kunst des Wasserhebens: Die Erfindung des Kunstgezeugs
Wegweisend war zunächst die Entwicklung leistungsstarker Entwässerungsanlagen für die Bergwerke. Denn diese Technologien lösten das Problem, auch in tieferen Schichten die Erze zu fördern. Gruben konnten nun bis in mehrere hundert Meter getrieben werden. Die Pumpensysteme waren aus Kolbenpumpen sowie Gestängen konstruiert und wurden Kunstgezeug genannt. In der Zinngrube Ehrenfriedersdorf wurde das nach diesem ersten Einsatzort benannte Ehrenfriedersdorfer Kunstgezeug 1540 eingesetzt. Die originale Radkammer und Nachfolgeanlagen aus dem 19. Jh. sind heute noch zu sehen. 

Im Buch De re metallica (1556, dt. „Vom Bergwerk“) des Arztes, Humanisten und Gelehrten Georgius Agricola sind diese Innovationen dokumentiert. Es war das erste wissenschaftliche Lehrbuch, das alle damals bekannten Bergbautechnologien darstellte. Agricola wird daher weltweit als „Vater der Bergbaukunde“ bezeichnet und war zwischen 1546 und 1553 mehrmals Bürgermeister in Chemnitz. Das Kunstgezeug wurde im tschechischen Jáchymov weiterentwickelt und für mehr als 200 Jahre zur weltweit dominierenden Wasserhebetechnik. Es ist der Vorläufer anderer moderner Pumpentypen.

Vom Arschleder zur Schuhindustrie: 500 Jahre Lederverarbeitung
Mit dem Bergmannsstand entwickelt sich auch eine eigene Berufskleidung. Ein markanter Bestandteil ist das Arschleder, das aus Kalbsleder gefertigt und um die Hüfte gebunden wurde. Es schützte den Hosenboden vor dem Durchwetzen bei der Arbeit im Berg und vor allem beim Einfahren in den Stollen. Es wurde im 15. Jh. in der slowakischen Bergbauregion Banská Štiavnica erfunden und dann im böhmischen sowie sächsischen Erzgebirge übernommen. Das Arbeitsutensil entwickelte sich über die Jahrhunderte auch zum Ehrenzeichen der Bergleute und wird heute noch bei Bergparaden getragen. 

In Ehrenfriedersdorf entwickelte sich aus den Ledermanufakturen, die das Arschleder herstellten, im 19. Jh. eine Lederindustrie. Deutschlandweit bekannt für ihre Qualität waren die Produkte der Schuhfabrik Panther. Sie produzierte noch bis 1992 hier im Ort. 

Tiefgründiges Staunen und lange Tradition: Vom Bergwerk zum Museum
Die Zinnförderung am Sauberg in Ehrenfriedersdorf endete am 3. Oktober 1990 – welch ein symbolisches Datum! Aber eine neue Zeit begann nicht nur wegen der Deutschen Einheit. Auch der globalisierte Rohstoffmarkt begann sich zu ändern, Preise für Zinn und andere Erze fielen. Die Förderung war nicht mehr lukrativ. Ehemalige Mitarbeiter:innen sowie viele Interessent:innen aus der Region engagierten sich für den Erhalt der Zinngrube. Im Jahre 1995 eröffnete das heutige „Besucherbergwerk Zinngrube“. Es gehört zum Zweckverband der Sächsischen Industriemuseen.

Wohlstand schafft Kunst: Flügelaltar von Hans Witten in der St. Niklas Kirche
Der durch den Bergbau entstandene Wohlstand der Bergstadt Ehrenfriedersdorf wird unter anderem in der Kirche Sankt Niklas sichtbar. Man engagierte den großen Meister H.W. (Hans Witten), einen wandelbaren Flügelaltar mit Festtags-, Sonntags- und Werktagsseite zu gestalten. Der Meister und seine Werkstatt schufen außergewöhnlich ausdrucksstarke und leidenschaftlich emotionale Skulpturen und Bilder. 

Auf der Festtagsseite zeigen geschnitzte Holzfiguren die Krönung der Gottesmutter Maria zur Himmelskönigin. Nach der ersten Wandlung des Flügelwerks wird in vier großen gemalten Tafeln die Leidensgeschichte Jesu dargestellt. Eine zweite Wandlung des Altars zeigt nochmals Heilige in gemalter Darstellung: Andreas und Bartholomäus auf den inneren, Wolfgang und Martin auf den äußeren Flügeln. 

Weitere Kunstwerke von Hans Witten befinden sich im Dom Freiberg, in der St. Annen-Kirche in Annaberg-Buchholz und im Schlossberg Museum Chemnitz. Michael Stötzner, Baubürgermeister von Chemnitz sagt mit Stolz: „Hans Witten ist unser Veit Stoß.“ Dieser war ein berühmter spätgotischer Bildhauer und Schnitzer, der vor allem in Krakau und Nürnberg tätig war. 

Bergmännische Frömmigkeit: Heilige Barbara und Heiliger Erasmus
Die Festtagsseite zeigt links die Heilige Barbara. Sie starb wegen ihres Glaubens durch die Hand ihres rachsüchtigen Vaters. In der Hand hält sie den Abendmahlskelch, den ein Engel ihr in den Kerker gebracht haben soll. Der rechte Flügel zeigt Bischof Erasmus. Ihm sollen in der Zeit der Diokletianischen Christenverfolgung (3. Jh. n.Chr.) mit einer Seilwinde bei lebendigem Leibe die Eingeweide herausgedreht worden sein. Barbara und Erasmus galten als Heilige des Bergbaus und der Bergleute. Barbara flehte man bei Schlagwettern an, im Martergerät des Erasmus fanden die Bergleute einen Bezug zu ihren Arbeitsgeräten fanden. 

Spirituelles Zeugnis der Bergleute: Ehrenfriedersdorfer Berggebet von 1578
Die Arbeits- und Lebenswelt des Bergbaus wurde zunehmend Thema in den Gottesdiensten. Als eines der frühesten Zeugnisse für die tiefe Demut der Bergleute ist das „Ehrenfriedersdorfer Berggebet“ von 1578 überliefert. Es ist ein spirituelles Fundament der Ehrfurcht vor den Tiefen und Gefahren des Berges sowie der Schicksalsergebenheit, dass das Glück der Bergleute in Gottes Händen liegt.  

 „In die Grube fahren wir,
lass uns GOTT erst vor DICH treten
und Allmächtiger zu DIR
stets als rechter Bergmann beten.
Lass uns DIR befohlen sein,
fahre mit uns Knappen ein,
fahre mit uns ein vor Ort,
sei Beschützer uns und Hort.
Hilf uns Ernst und Ruh bewahren,
bei der Arbeit in Gefahren,
steh uns bei in Nacht und Not,
gib uns unser täglich Brot.
Ruft die Schichtglock uns zu Haus,
fahre dann mit uns aus. Glück auf!
AMEN.“ 

 

Der Bergbau im Erzgebirge formte über 850 Jahre eine Gesellschaft mit eigenen Sitten und Gebräuchen. Bis heute ist diese Kultur lebendig und wird mit großem Engagement gepflegt. Bergmannsumzüge, Mettenschichten, Liedkultur und Volkskunst gehören zur einzigartigen Tradition der Montanregion.

Aus Gemeinschaften wuchsen Traditionen
Schon im Mittelalter begannen die Bergleute, sich in Knappschaften zu organisieren. So vertraten sie ihre Interessen gegenüber den Grubenbesitzern und dem Landesherrn. Dabei ging es um die soziale Absicherung der Bergmänner und ihrer Familien bei Krankheit, Unfall oder Tod. Die beiden ältesten bis heute existierenden Vereinigungen sind die „Berggrabebrüderschaft Ehrenfriedersdorf“ (1338) und die „Historische Freiberger Berg- und Hüttenknappschaft e. V.“ (1426).

Bergparaden und -aufzüge: Weltweit einmaliges Kulturerbe
So sehen sie Einheimische und Gäste noch heute bei den Bergparaden an Weihnachten und zu jährlichen Festen, etwa dem Bergstadtfest in Freiberg (letztes Juniwochenende) und dem Bergstreittag in Schneeberg (21. Juli). Im Sächsischen Landesverband der Bergmanns-, Hütten- und Knappenvereine sind 65 Vereine aus Sachsen und der Tschechischen Republik mit mehr als 3.500 Mitgliedern organisiert.

Dazu gehören die bergmännischen Musikkapellen. Das Musikkorps der Bergstadt Schneeberg fungiert als Landesbergmusikkorps Sachsen und ist in alle offiziellen Feierlichkeiten des Freistaates eingebunden. 2016 wurden die sächsischen Bergparaden und Bergaufzüge in die Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland aufgenommen. 

Abgewandte Porträts: Corina Gertz
Die in Düsseldorf lebende, weltweit arbeitende und lehrende Fotokünstlerin Corina Gertz setzt den Fokus in ihrem globalen Langzeitprojekt „Averted Potrait“ (Abgewandtes Porträt) auf Frauen in traditionellen Kleidern und Trachten als Hüftbild in Rückenansicht vor monochrom schwarzem Hintergrund. Mit dieser bei allen Porträts wiederholten Anordnung, die Körperproportionen oder Hautfarben aus dem Blickfeld rückt, exponiert Gertz Kleidung und Attribute als kulturelle Konstanten, die in allen Regionen der Welt und über Generationen hinweg gleichermaßen Ausdruck von Individualität und Zugehörigkeit sind. 

Im Frühjahr 2023 fotografierte die Künstlerin in Schwarzenberg, Oelsnitz, Schneeberg, Annaberg-Buchholz, Marienberg, Ehrenfriedersdorf und Freiberg zum ersten Mal für ihr weltumspannendes Fotoprojekt Männer in bergmännischer Paradebekleidung aus unterschiedlichen Knappschaften und Brüderschaften. In ihren Rückporträts fixierte die Künstlerin nicht nur ihre prächtige Kleidung, sondern auch die Symbole und Zeichen einer über Jahrhunderte gelebten Bildsprache und eines besonderen Selbstbewusstseins. 

Der traditionsreiche Bergmannshabit der Wardeine, Schichtmeister oder Markscheider des Erzgebirges ist zwar wegen seiner miniaturisierten Darstellungen als Spielzeug, Weihnachtsschmuck und Nussknackern weltberühmt. Weniger bekannt ist jedoch, dass mit Epauletten, Posamenten und Stickereien verzierte Grubenkittel oder mit Federstutz und Wappen geschmückte Schachthüte weit mehr kommuniziert wird als die Insignien einer Parade- oder Arbeitskleidung. 

Der Habit verkörpert arbeitsteilige Praktiken und Klassen der Bergwerker und Hauer, Farben und Zeichen markieren die Zugehörigkeit zu revieren, Amalgamierwerken, Silber- und Saigerhütten sowie zur 1765 gegründeten Kurfürstlich-Sächsischen Bergakademie Freiberg. Der romantische Dichter Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, studierte hier zwischen 1797 und 1799. Das einzige überlieferte Porträt, gemalt von Franz Gareis um 1799, zeigt den Dichter in der Tracht eines Bergakademisten. 

Die Bilder werden 2025 im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms in der Kulturregion ausgestellt und sind Teil des Kunst- und Skulpturenweges PURPLE PATH. 

Der Kunst- und Skulpturenweg PURPLE PATH

Die Landschaften um Chemnitz – das Erzgebirge, Mittelsachsen, das Zwickauer Land – sind tief geprägt von der 850-jährigen Geschichte des Bergbaus. Der Abbau von Silber, Zinn, Kobalt, Kaolin und Wismut hat das Leben bestimmt; alle Wege, Straßen, Siedlungen haben irgendwie damit zu tun. Es ist eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, die im 21. Jahrhundert neu entdeckt werden will.

»C the Unseen« lautet das Leitmotiv der Kulturhauptstadt Europas 2025. Chemnitz und die Region werden Besucher:innen aus der ganzen Welt empfangen. Ein zentrales künstlerisches Angebot ist der Kunst- und Skulpturenweg des PURPLE PATH mit Arbeiten von internationalen und sächsischen Künstler:innen.

Kuratiert von Alexander Ochs orientiert sich der PURPLE PATH am Narrativ „Alles kommt vom Berg her“ und verbindet 38 Kommunen im Erzgebirge, in Mittelsachsen und dem Zwickauer Land mit der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Uli Aigners Monumentale Porzellane ist das sechste Kunstwerk am kontinuierlich wachsenden PURPLE PATH. Bereits installierte Werke stammen von Nevin Aladağ in Zwönitz, Tony Cragg in Aue-Bad Schlema, Friedrich Kunath in Thalheim, Tanja Rochelmeyer in Flöha und Carl Emanuel Wolff in Ehrenfriedersdorf.

Fotos: Ronny Küttner/photoron

Titelfoto: Thomas Liebert

Texte: Ulrike Pennewitz / Alexander Ochs

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