Flöha. Industrieareal wird neues Stadtzentrum
Flöha liegt wenige Kilometer östlich von Chemnitz, am Zusammenfluss der erzgebirgischen Flüsse Zschopau und Flöha. Wer mit dem Zug am Bahnhof ankommt, befindet sich geografisch sogleich mitten im Zentrum. Flöha ist eine Stadt im Umbruch. Der Bahnhof wird derzeit zum Kunstbahnhof umgebaut, der Vorplatz neugestaltet. All das wird auch Teil eines neuen Stadtzentrums sein. Hier machen die Flöhaer:innen aus dem Umbruch einen Aufbruch. Einer von ihnen ist Mahmood Afzal, Betreiber des „Gleis-7-Imbiss“ und Eigentümer des Bahnhofsgebäudes. Gemeinsam mit der Stadt Flöha und mit Unterstützung des PURPLE PATH Kurators Alexander Ochs entwickelt er den Bahnhof zum Kunst- und Ausstellungsort weiter.
Vom Bahnhof aus fällt sofort das große Areal der Baumwollspinnerei ins Auge. Die Textilindustrie war im 19. und 20. Jh. eine Schlüsselindustrie in Sachsen. Die alte Baumwollspinnerei in Flöha gehört zu den beeindruckendsten Industriebauten jenes Zeitalters. Der monumentale Fabrikkomplex prägte das Stadtbild fast 200 Jahre. 1809 wurde hier das erste Spinnereigebäude errichtet, bis 1904 kamen weitere große Fabrikgebäude in markantem Backsteinstil dazu. Damals hieß der Ort noch Plaue, erst seit 1962 trägt er den Namen Flöha. Tanja Rochelmeyer wird ihre farbigen Arbeiten aus dem Tunnel unter den Gleisen über den Fußweg in Richtung Baumwollspinnerei verlängern. Damit entsteht am Purple Path ein weiterer Mosaikstein der "Kunst am Bahnhof".
Während der DDR-Zeit war der VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien der größte Arbeitgeber in der Stadt. Wenige Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, im Jahr 1994 schloss die Spinnerei ihre Pforten. Ebenso erging es anderen Textilbetrieben und auch der großen Papierfabrik. Jahrzehnte wirtschaftlicher Neuorientierung folgten. Was sollte mit den Industriebrachen geschehen? Als Denkmal sächsischer Industriekultur könnte man die Baumwollspinnerei nicht einfach abreißen. Zu groß wäre das Loch im Stadtbild geworden, zu groß auch das Loch in der Erinnerung so vieler Menschen, die hier einst arbeiteten.
In einem städtebaulichen Masterplan wurde die Zukunftsidee entwickelt: Hier soll das neue Stadtzentrum entstehen.
Innovationen im Industriezeitalter: Baumwollspinnerei und Papierherstellung
Das Wasser der Flüsse Flöha und Zschopau war einst das prägende Element wirtschaftlicher Dynamik in den Dörfern Flöha, Gückelsberg, Plaue und Bernsdorf, die heute die Stadt Flöha bilden. Landwirtschaft und Mühlen waren ab dem 12.Jh. die ersten Gewerbe. Im 18.Jh. fand man ein kleines Steinkohlevorkommen, das bis etwa 1880 ausgebeutet wurde. Erst mit Textil- und Papierproduktion, die ebenfalls viel Wasser benötigen, erlebten die Ortschaften einen wirtschaftlichen Boom.
Vom Rittergutsbesitzer zum Industriepionier: Christian Gottlieb Seeber
Am Standort einer ehemaligen Schneidmühle auf der Kohlwiese errichtete der Chemnitzer Kattundrucker Benjamin Gottlieb Pflugbeil im Jahre 1789 eine Bleicherei und Färberei.
Die vorbeifließende Zschopau speiste das Gewerbe reichlich mit dem benötigten Wasser. 1798 übernahm Kommerzienrat Christian Gottlieb Seeber das Unternehmen. Der besaß eigentlich ein Rittergut und betrieb darauf Landwirtschaft. Mit der Betriebsübernahme wurde er zu einem der Pioniere der sächsischen Industrialisierung. 1809 legte er mit der Errichtung der Spinnmühle den Grundstein für die Fabrik, die als Baumwollspinnerei die Wirtschaft und das Stadtbild Flöhas bis heute prägen sollte. 160 Menschen fanden in Seebers Fabrik eine Arbeit.
Blütezeit der Textilindustrie im frühen 20.Jh.: Brüder Otto und Ernst Clauß
Am 1. Juni 1815 übernahmen Otto und Ernst Iselin Clauß die Baumwollspinnerei nebst Bleicherei. Beide waren Schwäger von Spinnereigründer Christian Gottlieb Seeber. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das Unternehmen zu einer der größten Spinnereien Sachsens. 1900 bis 1904 erfolgte nochmals eine grundlegende Produktionserweiterung und weitere Maschinisierung. Damit wurde die Flöhaer Baumwolle zu einem der modernsten Spinnereien in Deutschland.
Mit dem Tod von Nachfolger Ernst Stephan Clauß im Jahre 1925 endete eine beeindruckende Phase unternehmerischen Erfolges. Mehrere Wirtschaftskrisen setzen der Fabrik stark zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang ein Neustart der Baumwollspinnerei. Sie wurde in der DDR als VEB (Volkseigener Betrieb) weitergeführt. In Spitzenzeiten arbeiteten hier bis zu 1200 Menschen.
Der Papierfabrikant: Robert Wilisch (1846-1931)
Robert Wilisch wurde in der Bergstadt Schneeberg im Erzgebirge geboren. Sein Verwandter Heinrich Wilisch hatte dort 1805 eine der ersten Buntpapiermanufakturen im deutschsprachigen Raum gegründet. Eine weitere Fabrikation gab es in Oberschlema, von der heute einzig die denkmalgeschützte, aber noch unsanierte Wilisch-Villa (1896) in Bad Schlema zeugt. Das Werk wurde 1946 von der Sowjetischen Militäradministration als Kriegsreparation demontiert und wich dem Uranbergbau. Nach dem Schulbesuch in Schneeberg absolvierte Wilisch in Chemnitz eine kaufmännische Ausbildung. Danach ließ er sich im Ortsteil Plaue nieder.
Hier kaufte er eine ehemalige Spinnerei und gründete darin im Jahre 1878 eine Papierfabrik. Diese entwickelte und produzierte hochwertige Chromo-, Glace- und Buntpapiere sowie Kartons. Deren Qualität machte Robert Wilischs Fabrik überregional bekannt. Der Standort war ideal, denn der Fluss Zschopau lieferte das reichlich benötigte Brauchwasser. Das Geschäft prosperierte über viele Jahrzehnte.
Um die Jahrhundertwende wurde die Fabrik erheblich erweitert, da das Geschäft stark wuchs. Diese Fabrik war nach dem Ersten Weltkrieg eines der bedeutendsten und leistungsfähigsten Unternehmen in Sachsen. Die Produkte waren vor allem bei Druckereien gefragt, sodass in den 1920er und 1930er Jahren weitere Ausbauten folgten. 1931 starb Robert Wilisch.
Nach dem 2. Weltkrieg ging das Unternehmen in den Staatsbesitz über und produzierte im selben Produktsegment als VEB Buntpapierfabrik Plaue weiter. Mit einer gescheiterten Privatisierung als „Flöha Papier GmbH“ nach der Wende 1989/90 endete nach 115 Jahren die Papierproduktion. Seit 2021 gehört der inzwischen leerstehende Komplex der Stadt Flöha. 2021 und 2022 fanden in dieser Industriebrache ibug-Festivals statt.
Zukunft machen: Eine typische Mentalität im Erzgebirge
Innovationen und Traditionsbewusstsein, Offenheit und Zuwanderung sicherten seit jeher das Überleben in der Region Erzgebirge. All das zeugt von den vielen Prozessen der Transformation, die weit in die Geschichte zurückreichen und teils bis heute andauern. Die Region war immer in Bewegung. Menschen kamen und gingen mit dem wirtschaftlichen Auf und Ab, erfanden sich kulturell neu und entwickelten Handwerk und Technik weiter. So ist es bis heute. In der Industriestadt Flöha verwandelt sich eine große Textilfabrik in ein neues Stadtzentrum.
Von der „Alten Baumwolle“ zum neuen Stadtzentrum
Historisch hatte sich in Flöha nie ein richtiges Zentrum gebildet, da die Stadt ursprünglich aus den vier Dörfern Flöha, Gückelsberg, Plaue und Bernsdorf qua Verwaltungsakt zusammengeschlossen wurde. Aber mitten im Ort lag die große Industriebrache der Baumwollspinnerei – eine Chance, neue städtebauliche Ideen zu verwirklichen. Schritt für Schritt entstand ein Masterplan, der zwei Jahrzehnte umspannte.
Die Bürgerschaft erarbeitete 2005 in einer Ideenwerkstatt gemeinsam mit Architekten und Denkmalschützern, Landschafts- und Städteplanern sowie der Verwaltung neue Konzepte. Aus der „Alten Baumwolle“ wird in mehreren Bauphasen das neue Wirtschafts-, Verwaltungs- und Kulturzentrum. Geschäfte, Kindertagesstätten, Stadtsaal, Bibliothek und Vereinshaus sind bereits fertiggestellt. Als nächstes wird die Stadtverwaltung hierher umziehen, parallel entsteht der neue Marktplatz.